Mohammad Alzanna liegt wach, als der Rauchmelder losgeht. Zunächst denkt er, dass es wie so oft ein Fehlalarm ist, weil irgendwer raucht. Doch dann riecht er es: Es brennt tatsächlich in der Aufnahmeeinrichtung Oberfranken (AEO). Er drückt auf den Feueralarm, dann rettet er seine Familie. Das Baby seiner Schwester wickelt er in eine Decke und wirft es aus dem zweiten Stock in die Arme eines anderen Flüchtlings. Als die Feuerwehr immer noch nicht kommt, rennt er Richtung Gate. Unterwegs findet er nirgends einen der Security-Mitarbeiter, die hier sonst Streife laufen. Erst am Tor trifft er jemanden an. Wenige Minuten später kommt die Feuerwehr. Ein Flüchtling stirbt in dieser Novembernacht in den Flammen.
Im Mai kam Alzanna aus Aleppo über Italien nach Bamberg. Am Rand der Stadt sind hier rund 1300 Flüchtlinge untergebracht. Als CDU und CSU kurz nach der Bundestagswahl die Zukunft der Flüchtlingspolitik beraten, wird in dem Kompromiss zwischen den Schwesternparteien Bamberg als Vorbild genannt: Nach dem Willen der Union sollen künftig überall in Deutschland solche Lager entstehen. Doch taugt die Massen-Unterkunft tatsächlich als Vorbild?
Mitte Dezember. Bei einem Pressetermin präsentiert der Regierungsbezirk die Vorzeigeeinrichtung. Gegen 10 Uhr sammeln sich die Journalisten vor dem Tor, an dem Alzanna vier Wochen zuvor die Feuerwehr verständigt hat. Die vier Meter hohen Zäune sind zusätzlich mit Stacheldraht gesichert. Die Sicherheitsmitarbeiter haken die Namen der Journalisten auf einer Liste ab. Auf dem Weg zur Mensa stehen an jeder Stichstraße zwei Securitys in gelben Warnwesten. Dann führt Markus Österlein, der Leiter der Einrichtung, durch die Essens-Ausgabe in den leeren Speisesaal für 1000 Leute. „Wir haben inzwischen von Einweg-Geschirr auf Porzellan und Plastikbecher umgestellt“, verkündet er stolz. „Und natürlich kochen wir Halal.“ Unter seinem Anzug trägt der 26-Jährige, der in der CSU als Nachwuchstalent gilt, eine Trachtenweste. Anschließend geht es in eine leere Wohnung.
In den Straßen rund um die Aufnahmeeinrichtung ist die Stimmung angespannt. Hier hört man schnell die üblichen Parolen von Asylbewerbern, die sich ein schönes Leben machen. Doch zwischen den Ressentiments klingt etwas anderes durch: Die Menschen in dem Teil Bambergs, in dem die Grundstücke nur ein Drittel von dem kosten, was sonst in der Stadt gezahlt wird, fühlen sich abgehängt – von den „Bonzen, die am anderen Ende der Stadt in schicken Villen wohnen“.
Seinen Namen will niemand in der Zeitung lesen – aus Angst, dann in die rechte Ecke gestellt zu werden. Bei der Bundestagswahl hat hier gut jeder fünfte die AfD gewählt. Die Zahl der Diebstähle ist in Bamberg im vergangen Jahr um rund zehn Prozent gestiegen. Die Polizei führt das auf das Flüchtlingslager zurück. Bei den schweren Straftaten hat sich nichts verändert. Die Anwohner haben dennoch Angst. Sie verrammeln ihre Türen, installieren Überwachungskameras, manche trauen sich kaum noch auf die Straße.
Gleichzeitig gibt es in der 75.000-Einwohner-Stadt gut 100 Ehrenamtliche, die sich für Flüchtlinge engagieren. Einer von ihnen ist Florim Gashi. 1992 kam er aus dem Kosovo. „Ich habe hier in Bamberg nie Ausländerfeindlichkeit erlebt“, sagt er. Im letzten Jahr habe sich das geändert. „Wir versuchen die Flamme zu löschen, aber sie wird immer größer.“ Dabei kann er die Anwohner verstehen. Natürlich schüre es Ängste, wenn plötzlich auf der Kettenbrücke, einem touristischen Knotenpunkt der Weltkulturerbe-Stadt, ständig 20 bis 30 Asylbewerber sitzen. Dabei waren die Flüchtlinge nur dort, weil sie sich in das freie W-Lan eines Bäckers einwählen konnten. Gashi hat sich deshalb für einen Hotspot im Lager eingesetzt.
Darüber hat sich auch Mohammad Alzanna gefreut. Seine Frau lebt noch in Syrien. Obwohl seine Familie alles verkauft hat, was sie besaß, reichte das Geld nicht. Zunächst ging es in die Türkei. Acht Tage Fußmarsch. Dann mehrere Wochen mit dem Boot nach Italien. „Dort hat mir ein Polizist erzählt, wo wir welchen Bus nehmen müssen, um nach Deutschland zu kommen“, sagt Alzanna. Der einzige Kontakt zu seiner Frau in Syrien sind die Whats-App-Anrufe. „Sie haben extra Container aufgestellt“, sagt er. „Aber die sind immer abgeschlossen.“
Beim Treffen vor dem Tor des Lagers zittert Alzanna im Nieselregen. Er beschwert sich über das Essen, zeigt auf seinem Handy ein Bild von Nudeln mit Bolognese-Soße, verzieht das Gesicht. Er erzählt davon, dass nachts die Heizung abgestellt wird und wie er mit dem Hausmeister darüber gesprochen habe, weil das jüngste Kind seiner Schwester gerade mal ein paar Monate alt ist. Doch der Hausmeister habe nur gesagt, dass sei halt in Deutschland so üblich. Er spricht darüber, dass man in der Unterkunft nie alleine sei. Und er erzählt von seiner Angst. Vor den Sicherheitsleuten, der Polizei, den Taschendieben, den Drogendealern. Die Türen lassen sich nicht schließen. Jeder kommt von außen jederzeit ins Haus, in die Wohnung, ins Zimmer.
Beim Pressetermin drängeln sich die Journalisten in der leeren Wohnung. 115 Qudratmeter, 16 Betten, ein Klo, ein Bad, ein kleines Wohnzimmer, eine kleine Küche ohne Herd. Für Österleins Chef ist damit alles in bester Ordnung: „Das entspricht sieben Quadratmetern pro Flüchtling“, sagt Stefan Krug, der Bereichsleiter für Sicherheit, Kommunales und Soziales der Regierung Oberfranken. „Genau wie es das Gesetz vorschreibt.“ Auch daran, dass sich die Türen der Häuser und Wohnungen von jedem von außen öffnen lassen, stört er sich nicht. „Aus Brandschutzgründen können wir das leider nicht anders machen.“ Mit einem Lächeln lässt er jede kritische Frage abperlen.
Im Sommer 2015 suchte die Politik in München und Berlin händeringend nach Unterbringungsmöglichkeiten für Flüchtlinge. Dabei kam auch ein Teil der ehemaligen US-Kaserne in Bamberg ins Gespräch, die mit dem Abzug der US-Armee in den Besitz des Bundes übergegangen war. Die Stadt stimmte angesichts der humanitären Krise der Aufnahmeeinrichtung zu. Dafür versprach Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) Millionenbeträge aus der Wirtschaftsförderung. Für die Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge sind die Länder zuständig, dafür bekommen sie vom Bund pro Flüchtling einen Zuschuss von 670 Euro. Die Wohnblocks der AEO gehören dem Bund, der sie nun mietfrei dem Land Bayern überlässt. Gleichzeitig versucht die Landesregierung möglichst viele Sachleistungen zu stellen. Von der Wohnung, über Essen, Klopapier, Shampoo, Windeln bis hin zur Kleidung. In bar bekommen die Flüchtlinge nur ein kleines Taschengeld. Das Lager ist also auch ein Sparmodell.
Heinz Kuntke ist der erste Vorsitzende des Bürgervereins Bamberg Ost, der die Anwohner gegenüber der Stadt vertritt. Am Telefon wählt er seine Worte vorsichtig, spricht von den Ängsten seiner Nachbarn, den Abwehrreflexen, der Hilfsversuchen der Stadt. Ob die Unterkunft als Modell tauge? „Davon kann ich nur abraten“, sagt er. „Würde man 1200 deutsche junge Männer auf so engem Raum zusammensperren, was wäre da wohl los?“ Im Rathaus herrscht dieselbe Meinung: Während der Sondierungsgespräche zwischen Union, FDP und Grünen hat Oberbürgermeister Andreas Starke (SPD) in einem Brief eindringlich vor weiteren Massenunterkünften gewarnt. Solche Lager könnten nur zu sozialen Spannungen und Problemen im Umfeld führen. Die Ehrenamtlichen sehen es ähnlich. Obwohl die Einrichtung von Österlein gut geführt werde, ein Modell sei sie nicht. „Wenn die Flüchtlinge hier nur zwei Wochen bleiben würden, wäre das vielleicht Ordnung“, sagt Ulrike Tontsch von der Initiative Freund statt Fremd. Ein längerer Aufenthalt habe aber für alle, Anwohner wie Flüchtlinge, „äußerst negative Konsequenzen“. Doch viele bleiben mehrere Monate, manche sind schon ein Jahr hier.
Mohammad Alzanna schaut auf den Zaun. „Verbessern kann man hier nichts, man kann das Lager nur schließen“, sagt er. „Das hier ist nicht Deutschland.“ Seine Mutter, seine Schwester und sein Bruder haben inzwischen in Deutschland Asyl bekommen. Sie warten jetzt auf eine richtige Wohnung. Seine Tante und er wurden abgelehnt: Einreise über einen sicher Drittstaat. Sie sollen jetzt nach Italien abgeschoben werden. Wann wissen sie nicht. Nur, dass die Polizisten wie bei allen anderen mitten in der Nacht kommen werden, um sie in Handschellen abzuführen. Alzanna wird auch diese Nacht nicht schlafen können.
(Der Artikel ist zuerst in der Frankfurter Rundschau erschienen)